S
iggi Gwildies hat die Ruhe
weg. Gemächlich schneidet
er die üppig mit orangefarbe-
nen Beeren behängten Zweige von
den übermannsgroßen Büschen
ab. Seine Hände haben die Früch-
te bereits gelb gefärbt. „Hand-
creme brauche ich nicht“, sagt er
mit starkem plattdeutschen Ein-
schlag, während er
z um
Tr e c k e r
schlurft und die
Ernte in großen Kis-
ten verstaut, „mit
den Dingern kriegst
du eine Haut wie
ein Babypopo.“
Jetzt im Herbst
sind die Früchte des
Sanddorns reif und
kaum, dassman den
Rügendamm von Stralsund aus
überquert hat, sieht man sie überall
am Straßenrand leuchten. Bis zur
Sanddornplantage des Rügenhofs
am Kap Arkona sind wir gefahren,
durch baumbewachsene Alleen,
vorbei an sanft geschwungenen Fel-
dern, über den schmalen Steg bei
Lietzow, wo sich beiderseits der
Straße das Boddengewässer aus-
breitet, und schließlich durch einen
dichten Wald – bis uns die Leucht-
türme zum Ziel führten.
Der Rügenhof liegt direkt am
Weg zu den Leuchttürmen und den
berühmten Steilklippen. Neben ei-
nem Café und dem Hofladen be-
herbergt er auch einen Kräutergar-
ten und Kunsthandwerkstätten.
Und während der Sanddornzeit
können die Gäste hier die Ernte,
Verarbeitung und Veredelung ge-
nau nachvollziehen.
So zeigt Siggi Gwildies die vier
großen Kühltruhen, in denen die
geernteten Sanddornzweige la-
gern. Er nimmt ein
paar der tiefgefro-
renen Zweige her-
aus und schlägt sie
an den Rand einer
Tonne. Sofort pras-
seln die Beeren ab.
Wenn sie aufgetaut
sind, wird Siggi sie
in einen Häcksler
füllen, dann in den
selbst konstruierten
Muser, wo die Beeren kalt gepresst
werden – und fertig ist der dick-
flüssige, orangefarbene Mutter-
saft, das Königsprodukt und All-
heilmittel. „Zwei Beeren haben so
viel Vitamine wie eine Zitrone,“
weiß Siggi. Der Saft landet später
im Schnaps, in der Marmelade
oder im hauseigenen Kuchen.
Doch auch die Reste der Pres-
sung will man nicht verkommen
lassen. „Daraus machenwir Nektar.
Und die allerletzten Rückstände
werden für Tee getrocknet“, erklärt
Ernst Heinemann, seines Zeichens
Chef des Rügenhofes, Kräuterex-
perte und Bürgermeister der Ge-
meinde Putgarten. Als echter Rü-
gener und gelernter Landwirt hat
er schon seit vielen Jahrenmit dem
Sanddorn zu tun: „Zu DDR-Zeiten
kamen häufig ganze Familien. Die
haben die wilden Beeren geerntet
und sie dann an die Pharmaindus-
trie verkauft.“ Dass die widerspens-
tige Pflanze aber einmal so im
Trend liegen würde wie heute, hät-
te noch vor zehn Jahren niemand
auf der Insel gedacht.
Wie nützlich und heilsam der
Sanddorn ist, zeigt sich auch beim
Besuch des Reformhauses Casa
Verde in Binz. Da stapeln sich Pro-
dukte aus Rügener Anbau imRegal
etwa Gelee aus Sanddorn und
Holunderblüten oder kräftig oran-
gefarbener Honig mit Sanddorn.
Besitzerin und Ernährungsberate-
rin Heike Reetz hat aber auch vie-
le Tipps, wie man die Grund-
produkte wie Muttersaft und Öl
kombiniert. „Von dem Frucht-
fleischöl aus Sanddorn etwa rei-
chen fünf Tropfen im Salatdressing
und schon haben Sie jede Menge
Vitamine, eine wunderschöne Far-
be und einen interessanten, fruch-
tigen Geschmack.“
Ein paar Schritte weiter beginnt
die Hauptstraße von Binz, die sich
an der Seebrücke bis aufs Meer
verlängert. Jetzt imHerbst, wo die
Besucher in Fleece gehüllt flanie-
ren und die Winde ungemütlich
pfeifen können, ist warmer, süßer
Sanddornsaft überall erhältlich.
Ein paar Schluck und schon breitet
sich die wohlige Wärme im Körper
aus – so wie die Gewissheit imGe-
hirn, pure Gesundheit zu schlu-
cken. Selbst für mehrstündige Spa-
ziergänge am Strand ist man somit
bestens gewappnet.
Mit Gesundheitsargumenten
braucht man Ralf Haug allerdings
nicht zu kommen. Der Chefkoch
der NiXe, des wohl interessantesten
Restaurants der Insel, wählt seine
Produkte ausschließlich nach dem
Geschmack aus. Seine puristischen,
gleichzeitig verspieltenMenüfolgen
komponiert er dabei aus regionalen
Zutaten, fast alles kommt aus der
Umgebung. Klar, dass dabei auch
Sanddorn nicht fehlt.
Allerdings darf der wegen sei-
nes Eigengeschmacks nicht in je-
des Gericht rein. „Ich verwende
Sanddorn nur für Desserts, wegen
seines markanten Geschmacks al-
lerdings nicht ohne einen Gegen-
part wie zum Beispiel weiße Scho-
kolade.“ Ralf Haug, der mit seinem
Restaurant den ersten Michelin-
Stern für Rügen erkocht hat, freut
sich, dass das Bewusstsein für re-
gionale Produkte stärker geworden
ist und immer noch wächst. Und
auch in seinem neuen Restaurant
Freustil, das er ab Mai 2013 in Binz
führt, wird er weiterhin regional
und ökologisch kochen. Und sicher
auch wieder mit Sanddorn.
Samstag/Sonntag, 17./18. November 2012 68. Jahrgang Nr. 269 D/R/S
REISEN
Eine Insel sieht Orange
Auf Rügen leuchtet jetzt wieder überall am Straßenrand der Sanddorn. Eine Reise zur Erntezeit
von Judith Hyams
Ernten:
Auf dem Rügenhof
können Gäste noch bis zum
16.
Dezember bei der Sand-
dornernte mithelfen, immer
montags, mittwochs und
freitags ab 10 Uhr. Weitere
Informationen unter
Tel. 038391/4399 90.
Einkaufen:
Das „Sanddorn‘s“
direkt an der Hauptstraße in Binz
bietet eine große Auswahl ver-
schiedenster Produkte. Alternativ
und mit Ernährungsberatung:
Casa Verde, Zeppelinstraße 5.
Essen:
Restaurant NiXe,
Strandpromenade 10, Binz.
Service
Dass der Sanddorn
einmal so im Trend
liegen würde wie
heute, hätte vor
noch zehn Jahren
niemand auf der
Insel gedacht.
RETTEN
An der Pazifikküste Nicaraguas
legen seltene Schildkröten ihre
Eier ab – Naturschützer retten
diese vor Dieben
Seiten 4-5
REITEN
Über Stock und Stein: ein
Wanderritt vom Havelland in
Brandenburg an die polnische
Ostseeküste
Seite 6
4
SEITEN REISESPEZIAL
An Rügens Küsten reifen die
Beeren des Sanddornstrauchs
von Anfang August bis in den
Dezember hinein.
PR
Rügen
B
a
l
t
i
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c
h
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s
M
e
e
r
Binz
Gingst
Stralsund
10
km
Raufeld/K.Jaeger
Mecklenburg-Vorpommern