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REISE
D/R/S
Nr.269
68.
Jahrgang
Samstag/Sonntag, 17./18. November 2012
Frankfurter Rundschau
Ä
chzend senkt sich die schwe-
re Verladerampe der Swine-
münder Fähre, mit der wir
auf die Insel Wollin übersetzenwol-
len, herab. Menschen, Fahrräder,
Autos, Lkws – und sechs Pferde –
setzen sich in Bewegung. Eines der
Tiere, Honorine, ist besonders ner-
vös, es scheut vor der Rampe. Als
seine Vorderhufen kurz in die Luft
schlagen, zücken die umherstehen-
den Passagiere unter ehrfürchtigem
Geraune ihre Fotoapparate. „Alle
bilden einen Kreis ummich undHo-
norine, damit das Pferd ruhiger
wird!“, ruft Sabine Zuckmantel be-
stimmt. Es funktioniert.
Alle, damit sind die übrigen
fünf Reiter gemeint, die sich aus
dem brandenburgischen Havel-
land aufgemacht haben, um über
die Insel Usedom nach Kwitajny,
dem ehemaligen Quittanien, in Po-
len zu gelangen – auf dem Rücken
eines Pferdes. Vier Wochen sind sie
zusammen mit der Wanderritt-
Führerin und Reiseveranstalterin
Sabine Zuckmantel unterwegs.
Nicht alle der Reiter absolvieren
die rund 600 Kilometer, manche
kommen für eine Woche mit, an-
dere für zwei bis drei Tage. Aber es
gibt auch Reisende, die die ganze
Strecke hinter sich legen: Christine
zum Beispiel, eine Mittfünfzigerin
aus Israel, die dort bei der deut-
schen Botschaft arbeitet. Oder
Kerstin, die passionierte Wander-
reiterin ist: „Ich bin dieses Jahr
schon mit Sabine von Berlin nach
Wien geritten“, erzählt sie. Tequi-
la, eine Albino-Stute, wackelt ein
wenig nervös mit ihrer Unterlippe,
während sie ihre aufgeregt tän-
zelnde Kollegin beobachtet. An-
sonsten ist sie die Ruhe selbst, trotz
der vielen verschiedenen Vehikel
mit deutlich mehr als einer Pferde-
stärke um sie herum. „Die Pferde
kennen die Strecke mittlerweile
recht gut“, sagt Zuckmantel, die
bereits zum siebten Mal mit ihren
Tieren nach Polen reitet. Die zier-
lichen, aber trittfesten Berber sind
bekannt für ihre Zuverlässigkeit,
aber auch Fleiß und Aufmerksam-
keit schreibt man ihnen zu.
Ritt durch einen Märchenwald
Doch ehe die Reiter an der Swine-
münder Fähre ankommen, sind sie
erst mal eineWeile unterwegs, wo-
bei Zuckmantel und der Trossfah-
rerWieland den Teilnehmern jeden
Morgenmit derWanderkarte in der
Hand die Strecke erläutern: „Wir
reiten über das SeebadHeringsdorf
nach Ahlbeck. Ab da geht es in den
Wald, bis wir zur Grenze kommen“,
sagt Zuckmantel und verzieht ihr
sonnengebräuntes Gesicht zu ei-
nem verschmitzten Grinsen: „Ein
bisschen Glück gehört dazu, ich
komme jedes Mal an einer anderen
Stelle heraus.“
Für Usedom-Urlauber ist der
Weg nach Polen kurz: Gerade ein-
mal 30 Kilometer sind es von Use-
dom-Stadt bis nach Swinoujscie,
wie Swinemünde auf Polnisch
heißt. Eine Strecke, die man mit
dem Auto locker in 40 Minuten
schafft. Die zwölfköpfige Wander-
gesellschaft lässt sich dafür zwei
Tage Zeit: Bei Sonnenschein und
blauemHimmel reitet sie durch die
kleinen Ortschaften der Insel, wo
sie von den Einheimischen freund-
lich gegrüßt wird. Doch so ganz
wird sie die vierrädrigen Konkur-
renten nicht los: Als der Waldweg
auf der Strecke nach Benz mit um-
gefallenen Baumstämmen ver-
sperrt ist, geht es nur auf der
Schnellstraße weiter. 120 Stun-
denkilometer bekommen vom
Pferderücken aus eine völlig neue
Bedeutung – würde eines der Tie-
re jetzt scheuen oder sich von den
heran brausenden Wohnmobilen
gestört fühlen: Der beschauliche
Ausflug wäre schnell vorbei.
Seid ihr zu Fuß gegangen oder
was?“, unkt Wieland. Mittlerweile
ist der Trupp am Waldrand ange-
kommen, an dem ein kleiner ge-
deckter Picknicktisch mit Wein,
Käse und frischem geräucherten
Aal steht. Wielands mitunter etwas
rauer Umgangston täuscht nicht
darüber hinweg, dass er die gute
Seele des Vorhabens ist: Egal ob
vergessene Zahnbürsten, Zigaret-
tenpäckchen oder eine Extraporti-
on Kaffee, in seinem schwarzen
Van samt Pferdeanhänger liegen
neben dem Gepäck wohlsortiert
alle Dinge, die die Reiter unter-
wegs brauchen könnten – so ganz
ohne Auto geht es eben doch nicht.
Das Waldstück zwischen Ahl-
beck und Swinemünde gleicht
dann einem Märchenwald: Links
und rechts neben dem schmalen
Pfad liegen Birken halb mit Moos
überwachsen im Sumpf. Die Stre-
cke ist hügelig, sodass die Pferde
mehrmals vorsichtig einen Hang
hoch- oder heruntergetrieben wer-
den müssen. Um nicht von herun-
terhängenden Ästen getroffen zu
werden, beugt man sich bei einer
schnellen Galoppstrecke ganz nach
vorne auf den eifrig wippenden
Pferdehals. Pures Adrenalin strömt
durch die Adern, wenn der an sich
gemächliche Trupp auf dieseWeise
auf einmal richtig Fahrt aufnimmt.
Plötzlich hebt Zuckmantel die
Hand. Im Wanderritt-Vokabular
heißt das Gangartwechsel, bis alle
zum Stehen kommen: Rechts und
links von ihr stehen jeweils ein
schwarz-rot-gelber und ein weiß-
roter Betonpfeiler. Jetzt passieren
wir die deutsch-polnische Grenze,
sagt sie und es klingt feierlich.
Fähre mit Pferden
Mitten durch die Innenstadt von
Swinemünde reitet der Tross dann
Richtung Fähre. Das Klackern der
Hufen auf demAsphalt des Ostsee-
bades klingt geradezu feierlich und
wird von dem aufgeregten „Dobry,
dobry“ – „schön, schön!“ – der Pas-
santen begleitet.
Die Fähre samt beruhigter Pfer-
de setzt schließlich über. Für eini-
ge Teilnehmer endet nun die Reise
auf der Insel Wollin im Kaiserbad
Misdroy. Die aus der Zeit gefalle-
nen weichen Plüschteppiche und
dicken Ohrensessel des dortigen
Jugendstilhotels Marina passen
gut zum Stil des Wanderritts, die-
ser Fortbewegung in altmodi-
schem Tempo. Für die anderen
geht es jetzt erst richtig los: Noch
drei Wochen reiten sie, bis sie Quit-
tanien erreicht haben – mit jeweils
einer Pferdestärke.
Ganz gemächlich
Mal im Galopp, dann wieder langsam: ein Wanderritt von der Ostseeinsel Usedom ins polnische Wollin
von Cosima M. Grohmann
Wanderreiten
Sabine Zuckmantel veranstaltet
ganzjährig Wanderritte von
einem Tag bis zu vier Wochen.
Die Reise „Polen: ein
Spätsommertraum“ wird auch
im kommenden Sommer
angeboten. Eine Woche kostet
1 300
Euro pro Reiter, 28 Tage
4 600
Euro. Termine und
weitere Informationen unter:
wanderreiten-havelland.de
Service
Idyllischer Anblick: Auch für
die Pferde bleibt Zeit zum
Entspannen.
CHRISTINE ALBRECHT (2)
Pferd statt Auto, Karte statt
GPS: Sabine Zuckmantel.