Berlin
Retro
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tip Campus
April 2013
Als David Bowie Anfang des Jahres unvermutet den Berlin-Song
„Where Are We Now?“ ins Netz stellte, rauschte eine Welle der Rührung
durch die sozialen Netzwerke. Diese alte Stimme! Der Dschungel!
West-Berlin in den 70ern! David und Iggy, Helden eben nicht nur just
for one day. Das selbst wieder „Heroes“ von 1977 überformende Cover
des Comebackalbums „The Next Day“ macht klar: Bowie, der immer die
bereits leicht verwässerten, gerade aktuellen Popströmungen aufsog wie
ein Schwamm, zelebriert hier seinen Blick in die eigene Vergangenheit:
vom Glamrock über zartbitteren Noise bis hin zum breitbeinigen Midtem-
porock, den vor allem die nach wie vor jeden Zwang fliehende Stimme
adelt. Und natürlich zitiert er die schaurig-schön-kaputte Romantik einer
urbanen Periode, in der man noch wusste, was Subkultur ist.
Die Pophauptstadt Berlin ist eben nicht nur neu und hip, sondern
auch alt und hip. Der schroffe Charme der Mauerstadt wurde auch
noch in den 80er-Jahren hochgehalten. Damals waren Szenefiguren
wie Nick Cave, Wolfgang Müller und Martin Kippenberger an der Rei-
he. Cave geht heute, nach längerer Durststrecke, wieder als solider
Handwerker der großen Gefühle durch, obwohl er, vom Massenmör-
derchic-Blue bei Grinderman abgesehen, seit Jahren vor allem weh-
mütig-hinterfotzige Balladen im eleganten Schwarz offeriert. Kippen-
berger wird heute im Hamburger Bahnhof ob seines präaufschreitaug-
lichen Witzes hofiert, und Müller von der Dilettantenkunsttruppe Die
tödliche Doris brachte vor Kurzem in Buchform die Erinnerung an die
wilden Jahre der West-Berliner Subkultur heraus. War früher also
alles geiler?
Die Popmusik, so der letztes Jahr viel diskutierte Generalvorwurf des
britischen Popjournalisten Simon Reynolds, sei in der Retroschleife ge-
fangen. „Brand New, you’re retro“, sang die TripHop-Legende Tricky
einmal, aber auch das ist schon lange her. Der Großteil der aktuellen
Musik, meint Reynolds, der sich persönlich für diverse Verwegenheiten
der experimentellen Noise- und Elektronikmusik begeisternde Advokat
der Innovation, bestehe aus der epigonalen Plünderung der Soundar-
chive und Plattensammlungen beziehungsweise aus der bloß rekombi-
nierenden Nachstellung popkulturell abgesegneter Stilelemente. Das
postmoderne Sampling von Erinnerungsfragmenten bezieht sich aber
auffallend häufig auf eine Phase der Popmusik, die ironischerweise noch
einen Aufbruch in das Ungewisse, und sei es in das Niemandsland des
No Future, versprochen hatte. So glimmen in der progressiven Version
von Retropopmusik Postpunk, Oldschool-Rap oder Disco als Fackeln
einer vergangenen Revolution weiter. In der konservativen, nostalgi-
schen Spielart wie Neosoul oder der Max-Raabe-Version von Retro sitzt
das Stecktuch im Smoking besser als im herbeifantasierten Original.
Retro als regressives Wohlfühldesign, das die Welt so nachbaut, als
wäre sie noch in Ordnung: Man findet es vor allem dort, wo eine
zahlungskräftige Kundschaft bereit ist, für ein Lebensgefühl zu zahlen.
Zum Beispiel im neuen Trendviertel von Paris. Es nennt sich nach dem
Welt ohne Zukunft
„Mad Men“, „Pan Am“ – das Alte ist das neue Neue, mit einem paradoxen Twist: Die Retromoden
der Gegenwart erinnern an die bunten Zukunftshoffnungen der Vergangenheit. Im Spiel der Popkultur
mit den Zeichen des Gestern zeigt sich eine durchkreuzte Sehnsucht nach der Utopie
Rückkehr in die Fabrik unserer Sehnsuchtsbilder: Erfolgsserie „Mad Men“
Foto: Jordin Althaus / ZDF / AMC
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