Berlin
Anwesenheit
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tip Campus
April 2013
„Ist es nicht erstaunlich, was wir uns gegen-
wärtig alles gefallen lassen?“, stellt Robert
Pfaller in seinemWerk „Wofür es sich zu leben
lohnt“ ernüchternd fest. Die Entwicklung der
Hochschulen ist für ihn ein Paradebeispiel für
die immer stärkere Bevormundung in sämtli-
chen Lebensbereichen. Die Universitäten Eu-
ropas verwandelten sich in repressive Ober-
mittelschulen, die nur noch auf den Prinzipien
des Zwangs und der Kontrolle beruhten, wo-
durch die Ressourcen der freiwilligen Motiva-
tion und des neugierigen Interesses verschleu-
dert und die Universitäten als Orte der For-
schung, des freien Gedankenaustauschs und
der kritischen Selbstreflexion der Gesellschaft
ruiniert würden, so der Autor.
Unter den Protestierenden der Freien Uni-
versität hätte Pfaller mit dieser Äußerung
womöglich das Potenzial zum Popstar. Seit
mehr als einem Jahr kämpfen mehr als tau-
send Studierende vehement gegen die Verab-
schiedung einer neuen, ihrer Meinung nach zu
restriktiven Rahmenstudien- und Prüfungs-
ordnung (RSPO). Der Grund für die Neugestal-
tung liegt in der Novellierung des Berliner
Hochschulgesetzes aus dem Jahr 2011, die
fordert, dass alle Studiengänge einer Univer-
sität einheitlich geregelt werden. Da bisher
jeder Fachbereich der FU unterschiedlich ver-
fährt, soll nun eine zentrale Satzung das Prin-
zip der Gleichbehandlung garantieren. Für die
Protestierenden stellt die RSPO aber haupt-
sächlich eine Ansammlung strenger Vorschrif-
ten dar, die die Möglichkeiten eines selbstbe-
stimmten und flexiblen Studiums noch weiter
einschränken. Dennoch wurde die RSPO am
20. März im Akademischen Senat (AS) mehr-
heitlich beschlossen.
Die Kritik der Studierenden richtet sich vor
allem gegen die Wiedereinführung der Anwe-
senheitspflicht. 2009 wurde diese infolge eines
Bildungsprotests an allen Berliner Hochschulen
abgeschafft. Nun steht sie wieder in der RSPO
der FU, ohne dass in der Zwischenzeit evaluiert
worden wäre, ob eine Anwesenheitskontrolle
sinnvoll ist oder nicht. Auch die Anzahl mög-
licher Prüfungswiederholungen wird durch die
neue RSPO auf zweimal begrenzt, obwohl die-
ser Beschluss keine rechtliche Grundlage be-
sitzt. Zuvor konnten Prüfungen an der FU in
der Regel beliebig oft geschrieben werden. „Der
AS kommt bei diesem Punkt immer mit dem
Argument, dass man halt irgendwann begreifen
müsse, dass einem das Studium nicht liegt“,
erklärt Arvid Peschel, Hochschulberater beim
AStA der FU. „Das will ich gar nicht bestreiten,
aber was ist mit denen, die Prüfungsangst ha-
ben? Was ist mit den Prüfungen, bei denen es
grundsätzlich Durchfallquoten von 70–80 Pro-
zent gibt?“ Die RSPO berücksichtige die ver-
schiedenen Lebensumstände der Studierenden
nicht im Geringsten. „Eine Studentin mit Kind,
die es dreimal nicht ins Seminar schafft, kann
in Zukunft aus dem Seminar geschmissen wer-
den“, ärgert sich Arvid. Auch Studierende, die
aus finanziellen Gründen arbeiten müssten und
dadurch weniger Zeit für die Uni hätten, blie-
ben durch die neuen Regelungen auf der Stre-
cke. Unter Bildungsgerechtigkeit stelle er sich
etwas anderes vor.
Am meisten stören sich die Protestierenden
jedoch an der Art und Weise, wie die neue
RSPO entstanden ist. Anstatt die Studierenden
in den Gestaltungsprozess miteinzubeziehen,
wurde der erste Entwurf vom Präsidium größ-
tenteils im Alleingang erarbeitet. „Das Doku-
ment wurde uns unter der Hand zugespielt“,
erinnert sich Arvid. „Um uns überhaupt erst
mal Gehör zu verschaffen, mussten wir also zu
rabiaten Mitteln greifen“. Dazu gehörten neben
Flyern, Infoveranstaltungen und Rundmails
auch regelmäßige Stürmungen der Sitzungen
Freigeister unerwünscht?
Immer mehr Vorschriften und Bestimmungen machen aus den Berliner Unis
Lernorte der Pedanterie
.
Doch die Forderung nach selbstbestimmterem Studieren ist immer noch laut
Aktionen gegen die Verabschiedung der neuen Rahmenprüfungsordnung an der FU Berlin
Fotos: Björn Kietzmann
»Unser Mitspracherecht
belief sich auf ein paar
Kommaänderungen«
Tobias Roßmann (HU)
1,2,3,4,5,6,7,8,9 11,12,13,14,15,16,17,18,19,20,...48